„Bitte mit Deckel, bitte mit Sahne, bitte all inclusive.“ Unser Leben ist voller „mit“ – wir wollen immer mehr, immer weiter. Dieser Blog offenbart, wie reizvoll das „ohne“ sein kann. Nicht immer, aber meistens. Er erzählt von dem, was wir wirklich vermissen. Viel Vergnügen beim Lesen!

Pfingsten ohne WGT

Leipzig mal anders

Fotos: Katrin Koster

Schwarz ist so bunt: Gothics, Industrials, Steampunks, Mittelalterfans… Seit fast drei Jahrzehnten zieht es sie zu Pfingsten nach Leipzig. Beim Wave-Gotik-Treffen (WGT) leben sie lustvoll ihre zweite Identität, baden im dunklen Meer. Doch was, wenn solche Großveranstaltungen abgesagt werden? Besuch einer stillen Stadt, einer Bühne für Genuss.

Zum zweiten Mal fällt das WGT aus: ein Festival, das sonst die Massen anzieht. Und ja, 20.000 Seelen sind es definitiv nicht, die an diesem Maiwochenende durch die größte Stadt Sachsens flanieren. Eher einige hundert. Die genießen das umso mehr. Beim viktorianischen Picknick im Clara-Zetkin-Park feiert sich am Freitag die düstere Familie. Endlich können sie wieder ihre edlen Korsagen, Gehröcke und den Kopfputz ausführen. Sich abheben vom Alltagslook. „Und wenn das alles ist, dann will ich anders sein“, fassten Second Decay dieses Gefühl so gut zusammen.

Anders sein – und doch erkennbar. Auch an der Moritzbastei sieht man dunkle Rüschen, gefärbte Haare, Nieten. Als hätte das Universum ein Herz für die, die anders sein wollen, sinken kurz vor Pfingsten die Inzidenzen so weit, dass die Freisitze wieder öffnen: Wer einen negativen Coronatest vorlegt, darf aufs Dach der Moritzbastei.

Gezapftes Bier oder frischer Kaffee: ohne Einwegbecher, ohne den Bannkreis von 50 Metern, einfach zurücklehnen und draußen genießen. Herrlich, wie einst Alltägliches zum Besonderen wird. Klänge von Covenant, Torul, Destroid und Depeche Mode umhüllen die etwa 100 Gäste, die sich auch in den nächsten Tagen hier zum Mini-WGT mit DJs, Konzerten und Lesungen einfinden.

Normalität tanken
Zufällig stolpern wir am Samstag über die Tankbar, einen Biker-Treff neben einer alten Tankstelle westlich vom Zentrum. Gut gelaunt macht das Team kurzfristig kleine Konzerte möglich – die schwarze Crowd dankt es, bevölkert den Biergarten, froh über jedes Stückchen Normalität.

Andere Lokationen wie das Werk 2, wo sonst ein Konzert ins nächste fließt, umfangen uns still; das Rolltor bleibt unten. Das lässt Raum für Entdeckungen abseits der Hauptpfade. In einer Stadt, die sich ständig weiterentwickelt, in der Brachflächen zu urbanen Gärten und alte Mauern zu Graffitileinwänden werden. Gleich hinterm Werk 2 haben Sprayer ihre Bühne, ihre Wall of Fame. Wir haben Muße zum Wandeln, halten inne, bewundern die vergängliche Kunst.

Kein Zeitplan bestimmt den Tag. Wir lassen uns treiben, entlang der ungewöhnlich leeren Karl-Liebknecht-Straße (Karli), hier und da ausgefallene Outfits, doch deutlich weniger als zu WGT-Hochzeiten. Die Ruhe verbindet und formt zugleich einen Laufsteg für alle, die sonst manchmal in der Masse untergehen.

Vorbei am Felsenkeller in Plagwitz zieht es uns zum Karl-Heine-Kanal, danach kosten wir im Westwerk frische georgische Küche und erkunden die (noch) staubigen Winkel des Industrieareals, in dem unter anderem U-Boot-Armaturen gebaut wurden und das jetzt zur neuen Heimat wird – von Yogis, Künstlern, Kanuten, Judoka u.v.a.m.

Wilde Ruhe
Schließlich landen wir im Gartencafé Zum wilden Heinz, benannt nach einem Ziegenbock, der hier zwar nicht mehr lebt, uns sein Grün aber einfach überlässt. Kräuter wachsen zwischen den Tischen, eine Hängematte schwingt sacht im Wind. Für die passende Musik sorgen die Nachtigallen mitten im hippen Viertel, das an Berlins Prenzlberg erinnert. Damals, als noch nicht alles durchgestylt war.

Mit Blick in den Nachthimmel denken wir an frühere Wave-Gotik-Treffen: Lange Schlangen an der agra, dichtes Treiben auf dem Mittelaltermarkt, volle Trams und Busse, Tausende unterwegs von einem Highlight zum nächsten. Werden wir mit oder nach Corona solche Massenevents noch mal erleben? Oder gehört das zu den wilden Geschichten, die wir künftig erzählen, wenn wir lauter Musik frönen – mit Impfausweis und digitalem Check-In? Ohne Spontanität, dafür mit sicherem Abstand.

So oder so, das WGT wird sich neu formen. Als Familientreffen für alle, die das suchen, was anders ist. Und die in Leipzig noch so viel mehr finden.

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